Da ist Musik drin! – Sirāt – SP/F 2025, 115 Min. Regie: Oliver Laxe
mit Sergi Lopez, Bruno Núñez, Richard Bellamyun
Wummernde Beats in der Wüste Marokkos
Weiterlesen...In jedem Jahr gibt es mindestens einen Film, der das Festival in Cannes durchschüttelt und auf den Kopf stellt. 2025 war das neben Mascha Schilinskis „In die Sonne schauen“ ohne Frage „Sirāt“ von Óliver Laxe. Mit wummernden Beats und tief grollenden Bässen folgt der Film einem Vater mit seinem Sohn in die Wüste Marokkos, wo sie bei einem illegalen Wüsten-Rave nach Mar suchen, der seit fünf Monaten verschwundenen Tochter und Schwester der beiden. Als das Militär den Rave wegen einer vorgeblichen Gefahrenlage auflöst, macht sich eine Gruppe von Techno-Freaks auf zur nächsten Veranstaltung, die an der Südgrenze Marokkos stattfinden soll. Weil dort vielleicht auch Mar sein könnte, folgen Vater und Sohn mit einem für das Gelände denkbar ungeeigneten Familienvan den Ausreißern und geraten alsbald in ernste Schwierigkeiten. Óliver Laxe und sein Drehbuch-Koautor Santiago Fillol verraten nicht allzu viel über die Figuren: Luis (Sergi López) und sein Sohn Esteban (Bruno Núñez Arjona) tauchen wie aus dem Nichts auf, sind anscheinend schon seit längerer Zeit auf der Suche nach Mar, gerade so, als gäbe es keine schulischen oder beruflichen Verpflichtungen, die ihrer Irrfahrt im Wege stehen könnten. Damit ähneln sie in gewisser Weise den Menschen, denen sie auf dem Rave begegnen – es sind vorwiegend europäische Aussteiger*innen, die in der Isolation der Wüste ein sinnstiftendes Gemeinschaftserlebnis abseits der Zivilisation suchen. Sie gleichen einen Stamm, oder einer Endzeitsekte, haben sich von der Welt zurückgezogen, ähnlich wie die Überlebenden in George Millers postapokalyptischer Mad Max-Reihe, um in der Einöde ihre archaisch anmutenden Rave-Rituale vollziehen – immer auf der Suche nach Ekstase und dem Gefühl des Einswerdens miteinander, mit der Natur, mit den Beats und Bässen und den Mysterien des Seins. Nicht umsonst erinnert die gewaltige Lautsprecherwand, die sie zu Beginn des Films in der Wüste errichten, an einen heidnischen Altar. Der Gott, dem sie hier frönen, ist kein personaler, sondern die Musik selbst, die körperlos und markerschütternd zugleich die Gemeinschaft in Bewegung und Verzückung bringt, bis nur noch der Augenblick zählt, die reine Gegenwart der Beats und des Rausches, den sie verursachen. Nur an einer Stelle, für einen ganz kurzen Moment, sehen wir jemanden, der offensichtlich als eine Art DJ fungiert. Es ist der Musiker David Letellier aka Kangding Ray, der auch den imposanten Soundtrack des Films produziert hat. Ansonsten ist diese Musik völlig abgekoppelt von den Menschen, eine abstrakte Gottheit, allgegenwärtig und nicht zu greifen. In dieser Gemeinschaft sind Luis und Esteban Fremde, doch die hippieske Freundschaft der Raver formt aus der zusammengewürfelten Truppe eine Notgemeinschaft, die sich gegenseitig unterstützt und hilft, weil sie wissen, dass das Überleben in der Wüste nur funktionieren kann, wenn man solidarisch ist. Und so teilen sie auf dem Weg in den Süden Wasser, Benzin und Schokolade – und bald schon auch Leid und Verzweiflung, weil die Gruppe durch schreckliche Verluste (mehr sei hier nicht verraten) dezimiert und bis aufs Innerste erschüttert wird. So erbarmungslos das Schicksal hier zuschlägt, so schrecklich sind auch die Nachrichten, die nur an zwei Stellen aus dem Radio dringen und von denen zum Glück kaum etwas zu sehen ist: Die Welt steht am Rande eines dritten Weltkrieges, in Europa scheinen Kämpfe ausgebrochen zu sein, überall herrscht Chaos und Verzweiflung. Und so gerät die Fahrt nach Süden zum nächsten Rave auch zur Weltflucht, zu einem Versuch, der Grausamkeit der Welt zu entkommen, der natürlich zum Scheitern verurteilt ist: Vor der Realität gibt es letztendlich kein Entkommen. Am Ende kommt die verzweifelte Suche von Luis und die Weltflucht der Raver zu einem letalen Stillstand. Wie ein zynischer Spieler platziert Laxe seine Figuren auf einem Spielbrett in einer nahezu aussichtslosen Schachmatt-Konstellation. Die Musik verstummt, die Beats verklingen, die Bewegungen sind eingefroren im gleißend hellen Licht der Wüste. Ein Ausweg scheint unmöglich. Dann deutet er doch eine Rettung an. Doch der Preis ist enorm. Und es ist unklar, ob der schmale Eisenpfad, auf dem sie sich zum Schluss bewegen, nicht vielleicht doch der As-Sirāt ist, die schmale Brücke („so dünn wie ein Haar und so scharf wie das schärfste Messer oder Schwert“) in der islamischen Eschatologie, die die Verstorbenen beschreiten müssen, um ins Paradies zu gelangen. (kino-zeit.de)Ausblenden