MonatsDoku – Ö 2024, 118 Min. Regie: Ruth Beckermann
Kirstens Wunschfilm: Eine zutiefst menschliche Langzeitbeobachtung aus dem Klassenzimmer
Weiterlesen...Favoriten, das ist ein Bezirk im Süden Wiens, der aufgrund seiner hohen ethnischen Durchmischung medial häufig als „Problembezirk“ herhalten muss. Dort begleitete Beckermann (Waldheims Walzer) an einer Volksschule von Herbst 2020 bis 2022 eine Klasse vom zweiten bis zum vierten Jahrgang, bis zur bevorstehenden Aufteilung auf die weiterführenden Schulformen also. Die Schülerinnen und Schüler stammen aus Syrien und der Ukraine, Mazedonien oder der Türkei, niemand spricht Deutsch als Muttersprache, aber abgesehen davon ist das Klassenzimmer Bühne der üblichen kindlichen Dramen: Probleme in Mathe wechseln sich ab mit vielen kleinen Erfolgen, Albernheiten, Meinungsverschiedenheiten, die manchmal in Geschubse ausarten. Anders als etwa in Maria Speths Herr Bachmann und seine Klasse aus dem Wettbewerb der Berlinale 2021 geht Favoriten nicht von der Lehrperson als ordnendem Zentralgestirn aus — wenn einem auch die Klassenlehrerin Ilkay Idiskut mit unkaputtbarem Engagement und Empathie den allergrößten Respekt für ihren Job im Allgemeinen und ihre individuelle Leistung im Speziellen abringt. Der Film funktioniert trotzdem eher als Gemeinschaftsprojekt. Die Kamera bleibt zumeist auf Augenhöhe der Kinder (die sie meist völlig zu vergessen scheinen), ihre Gesichter füllen in zahllosen Großaufnahmen die Leinwand zur Gänze aus, überlebensgroße Persönlichkeiten. Später bekommen die Kinder selbst Smartphones zum Filmen in die Hände, Beckermann gibt ihnen den Crashkurs: Querformat bitte, und wenn möglich ohne Finger auf der Linse. Von da an ist auch das von den Kindern selbst gefilmte Material in Favoriten verwoben: Sie filmen sich gegenseitig in ihrer Freizeit, nehmen kleine Tagebuchsequenzen auf oder stellen sich die ganz großen Fragen: Was möchtest du später werden? Willst du irgendwann heiraten? Die Antworten darauf sind so unterhaltsam wie verblüffend. Dabei schreckt Beckermann auch vor den unangenehmen Momenten nicht zurück: Ratlosigkeit angesichts einer Rechenaufgabe eben, verfahrene Streitsituationen oder sensible Momente, in denen unterschiedliche Kulturen und Wertmaßstäbe aufeinanderprallen: Eigentlich dürften doch Christen nicht in einer Moschee beten, überlegt ein Junge einmal, und wieder ist es an Frau Idiskut, mit gezielten Gegenfragen Denkprozesse anzuschieben: „Wieso entscheidest du das? Bist du der Chef der Moschee?“ Das ist bei Weitem nicht der einzige Moment, in dem sich trotz des Fokus auf die Kinder der Blick in Favoriten weitet für ihre Lebensrealität außerhalb der Schule: Bei der Frage nach den Berufen der Eltern sind Bauarbeiter und Krankenschwestern hoch im Kurs, die essentiellen Berufe, die Österreicher anscheinend genauso ungern ergreifen wie Deutsche. Als Russland die Ukraine überfällt, wird in der Klasse über den Krieg gesprochen, und einige Kinder nutzen die Gelegenheit auch, an die Lage in Syrien zu erinnern. Eklatant ist zudem die Situation an den Schulen selbst: Als mitten im Semester eine Quereinsteigerin zur Klasse stößt, die noch kein einziges Wort Deutsch spricht, bekommt die Lehrerin keine Assistenz zur Seite gestellt, muss den Sprachkurs zusätzlich zum regulären Unterricht stemmen. SozialarbeiterInnen und SchulpsychologInnen sind ebenfalls Mangelware — ganz abgesehen von der grundsätzlichen Frage, ob es nicht ohnehin sinnvoller wäre, in den Schulklassen Deutsch-Muttersprachler und Nicht-Muttersprachler systematisch zu durchmischen. Die schiere Menge an ausgelassenen ebenso wie nachdenklich stimmenden Momenten im mit zwei Stunden für eine solche Langzeitstudie vergleichbar kurz geratenen Favoriten, die Menge an implizierten Problemen und drängenden Fragen über das Schulwesen als auch über unser Zusammenleben als westeuropäisch geprägte Gesellschaft macht es beinahe etwas schwierig, den Film als kohärentes, von der Vision seiner Regisseurin durchgeformtes Werk zu betrachten. Allerdings muss das auch gar nicht der Anspruch sein. Favoriten funktioniert genauso gut als Füllhorn mit Denkanstößen, von dem sich ein durchschnittliches Festival-Publikum ebenso inspirieren lassen sollte wie die Politik. Und jede Menge Spaß macht er dabei auch noch. (kino-zeit.de)Ausblenden
Sa. 20:30
A DIFFERENT MAN OmU
Cinema Obscure – USA 2024, 108 Min. Regie: Aaron Schimberg
mit Sebastian Stan, Miles G. Jackson, Patrick Wang
Eine bitterböse Komödie vom äußeren Schein im Showbiz
Weiterlesen...Regisseur Aaron Schimberg reflektiert mit „A Different Man“ sein eigenes Schaffen: Er hat Adam Pearson, einen Schauspieler mit Neurofibromatose, einer Erkrankung des Nervengewebes, durch die sein Gesicht voller Geschwülste ist, bereits in seinem vorherigen Film „Chained for Life“ besetzt. Manche Kritiken warfen ihm danach vor, das sei ausbeuterisch. Das habe ihm das Gefühl gegeben, man könne es nicht richtig machen, sagte Schimberg nun bei einem Pressegespräch auf der Berlinale. Stattdessen einen unversehrten Schauspieler durch Makeup zu entstellen, sei schließlich nicht im Sinne der Repräsentation verschiedenartiger Menschen im Kino. Und die Lebenswelten äußerlich andersartiger Menschen gar nicht in Filmhandlungen zu besprechen, könne ja sicherlich auch nicht richtig sein. Deshalb gibt es in A Different Man einfach alles: Eine blessierte Figur, die sozial verunsichert auftritt, und eine selbstbewusste, Adam Pearson und einen maskenbildnerisch transformierten Sebastian Stan sowie Sebastian Stan mit einer Adam-Pearson-Maske auf einer Theaterbühne. Auf der Plot-Ebene geraten die Figuren miteinander in Konflikte, und auf der Meta-Ebene zugleich die Konzepte, für die sie stehen. Edward ist Schauspieler, wird aber ausschließlich in stereotypen Rollen besetzt – einem Werbefilm gegen Mobbing zum Beispiel. Er suche Menschen mit „einzigartiger Physiognomie“, sagt ein Castingagent, was wie ein merkwürdiger Euphemismus klingt, eine Fetischisierung von Andersartigkeit. Das soziale Umfeld in dem Mehrparteienhaus, das Edward bewohnt, predigt derweil platte Selbstliebefloskeln: Um glücklich zu sein, müsse man sich nur nehmen, wie man ist. Lady Gaga habe das gesagt. Die Schauspielkarriere scheint trotz der „einzigartigen Physiognomie“ nicht zu laufen: In der Wohnung tropft es von der Decke. Edwards ursprüngliches Leben ist inszeniert wie eine schwarzhumorige Sitcom, inklusive Fahrstuhlmusik, Wohnungseinrichtung wie aus dem Katalog und einer attraktiven norwegischen neuen Nachbarin namens Ingrid (Renate Reinsve). Sie träumt von einer Karriere als Dramatikerin und würde Edward gerne eine Rolle auf den Leib schreiben. Sie ist von Edwards Äußerem nicht abgeschreckt, sieht ihn sogar genau an und bemerkt an Stelle der Geschwülste einen einzelnen Mitesser auf seiner Nase. Schimberg beweist hier großes Talent für Comedy-Dialoge. Eine Szene mit Edward und Ingrid in einer Pizzeria sticht besonders hervor. Trotz der Annäherung mit Ingrid und der Chance auf eine Theaterrolle entscheidet sich Edward für einen experimentellen, neuartigen medizinischen Eingriff, der ihm ein gänzlich neues Gesicht verschafft. Die Transformation ist Body-Horror-artig inszeniert. Während Edward sich ganze Fleisch- und Hautschichten vom Gesicht zieht, entstehen Fratzen, die durch einen Spiegel noch zusätzlich verzerrt werden und mitunter an Namensvetter Munchs Der Schrei erinnern. Nur funktionieren Transformationen im Horrorfilm (ikonisch etwa die Szene aus An American Werewolf in London) in der Regel nicht normierend, sondern in umgekehrter Richtung. Der Humor kehrt zurück, als Edward anschließend beginnt, am gesellschaftlichen Leben normschöner Männer teilzunehmen. Was zunächst bedeutet: Schnaps trinken, herumgrölen wegen irgendeines Sportereignisses und auf der Kneipentoilette einen Blowjob bekommen. Trotz all dieser tollen neuen Hobbys kann er aber von Ingrid und ihrem Theaterprojekt nicht loslassen. Und dann taucht auch noch eine quietschfidele, selbstbewusstere Version seines alten Selbst auf. A Different Man exerziert nicht nur auf brillante Weise die ethischen Fragen von Casting-Entscheidungen durch. Der Film verhandelt auch, wie die Geschichten von Minoritäten auf einer Drehbuchebene zu behandeln sind. In Ingrids Theaterinszenierung sehen wir Szenen, die wir zuvor schon zwischen Edward und ihr selbst gesehen haben, zugespitzt und expliziert. Alles, was zuvor zwischen den Zeilen war, wird ausgesprochen. Das Stück durchläuft dann diverse Änderungen, die von den Figuren diskutiert werden. Und dennoch ist A Different Man alles andere als ein trockener Diskursfilm, was Schimbergs Fähigkeiten als Comedy-Autor zu verdanken ist. Mitunter verlässt er sich zu sehr darauf. Manche unangenehme, schmerzhafte Szene wäre noch interessanter, würde sie ein bisschen länger dauern, bevor der Schnitt kommt. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau, und Adam Pearson zu sehen übrigens immer eine große Freude. Pearson hatte seinen Durchbruch in der Rolle des „deformierten Mannes“ in Under the Skin. Schimberg ist bisher der einzige Regisseur, der ihn in Hauptrollen besetzt. Er hätte noch mehr verdient – solche, die sein Äußeres thematisieren, aber auch solche, die andere Themen setzen und diverses Casting dadurch normalisieren. (kino-zeit.de)Ausblenden