Gagarine – F 2020, 97 Min. Regie: Fanny Liatard, Jérémy Trouilh
mit Alséni Bathily, Lyna Khoudri, Jamil McCraven
Eine faszinierende Hommage an den Mikrokosmos Plattenbau
Weiterlesen...Die Behörden in Paris haben schon vor einiger Zeit entschieden, das Viertel Gagarin im Südosten von Paris abzureißen. Die vor 50 Jahren hochgezogene und nach Weltraum-Pionier Juri Gagarin benannte Anlage ist veraltet und der Stadt ein Dorn im Auge. Die Cité Gagarine bietet allerdings auch vielen Menschen ein zu Hause, darunter Youri (Alséni Bathily), der nicht vorhat, einfach so wegzugehen. Und er ist nicht der Einzige. In Houssam (Jamil McCraven) und Diana (Lyna Khoudri) findet er Gleichgesinnte, die das Viertel erhalten wollen. Doch nach und nach müssen schließlich alle die Siedlung verlassen. Youri ist der letzte Bewohner, dessen Wohnung sich allmählich in eine Raumstation verwandelt. Raumschiffe sowie die Themen Raumfahrt und Weltall ziehen sich von Beginn an durch den vom Regie-Gespann Fanny Liatard und Jérémy Trouilh inszenierten Film. Sie bleiben dabei nicht nur angedeutete Symbolik oder tauchen als Metaphern auf. Das tun sie auch, aber „Gagarin“ ist ganz offensichtlich ebenso bei den Kostümen, Requisiten und den Dekors überdeutlich von Raumstationen, Planeten sowie Gagarin selbst, dem ersten Menschen im All, geprägt und inspiriert. Das zeigt sich etwa an Protagonist Youri und der Einrichtung seines Zimmers. Von der Decke baumelt ein Planeten-Mobile, wobei verschiedene Bälle (Tennis- und Tischtennisbälle u.a.) die einzelnen Planeten verkörpern. An der Wand hängen selbst gezeichnete Baupläne von Steuereinheiten diverser Raumfrachter und interstellarer Raumfahrzeuge. Am Fenster: Ein Teleskop, mit dem Youri die Sterne beobachtet. Sein großer Berufswunsch ist naheliegend. Astronaut will er werden. Später wird im Film eine Sonnenfinsternis zu sehen sein, die Liatard und Trouilh als poetisches, anmutiges Himmelsereignis inszenieren. Zudem reichern sie ihr Werk mit surrealen Elementen an, die wiederum exzellent zu einer der Kernaussagen von „Gagarin“ passen: Die Kraft der Imagination ist es, die in schweren Zeiten einen Ausweg ermöglicht. Und mit dieser Vorstellungskraft und Fantasie ist im Film niemand so gut ausgestattet und gesegnet wie Youri. „Gargarin“ beeindruckt mit erzählerischer Einfachheit und der ungeschliffenen Authentizität seiner (vor allem jungen) Figuren. Alséni Bathily beobachtet über sein Teleskop die Ereignisse im Viertel und er beobachtet Diana, ein Roma-Mädchen aus den der Sozialsiedlung vorgelagerten Slums. Zu ihr fühlt sich Youri, der von seiner Mutter verlassen wurde, hingezogen. Und mit ihr wird um den Erhalt seiner Heimat kämpfen. Wie in einem klassischen Coming-of-Age-Film geht es in diesen Momenten um Themen wie erste Verliebtheit, die Suche nach sich selbst, die Sehnsucht nach Geborgenheit und Nähe. Liatard und Trouilh unterbrechen den Erzählfluss hier und da. Das gelingt ihnen dank eingängiger Lieder, die auf die jeweilige Szene abgestimmt sind, aber ganz wunderbar. Kreative Ideen wie diese untermauern das Absichtsvolle und Bewusste in der Inszenierung. Am Ende ist „Gagarin“ nicht zuletzt ein Film, der von der Vergänglichkeit und dem Verschwinden erzählt. Ein toller Kontrast zur Gegenwartshandlung sind die historischen Aufnahmen aus den 60ern zu Anfang, die die Eröffnung des Hochhauskomplexes zeigen – unter dem Beisein von Juri Gagarin höchstpersönlich. (programmkino.de)Ausblenden
So. 15:30
DAS GEHEIMNIS DER BÄUME
KinderKino – Il était une forêt – F 2013, 78 Min. Regie: Luc Jaquet
Auf Entdeckungsreise in der faszinierenden Welt des Waldes
Weiterlesen...Hallé will mit dieser Dokumentation, die Luc Jacquet (Die Reise der Pinguine, Der Fuchs und das Mädchen) inszeniert hat, den Widerstand gegen die Rodung der Regenwälder mobilisieren. Am Anfang sieht man eine solche nackte Erdfläche, auf der nur noch ein Bagger steht. Selbst hier könnte sich der Wald wieder zurückbilden, sagt Hallé, dem Bruno Ganz seine ausdrucksstarke Stimme leiht. Allerdings würde das 700 Jahre dauern. Eine solche fiktive Regeneration von der Stunde Null an wird in einer eigenwilligen Mischung aus Realfilm und Computeranimation durchgespielt. Um zu veranschaulichen, was sich dem menschlichen Auge aufgrund seiner Jahrzehnte oder Jahrhunderte langen Dauer entzieht, lässt der Film beispielsweise zwischen echten Bäumen animierte Pflanzen empor sprießen. Ein Zeitraffermodell zeigt, wie die Würgefeige einen Baumriesen umschlingt und im Laufe der Jahre selbst die Form des Stammes annimmt, der in ihrer Mitte verschwindet. Die Animationen haben jedoch nicht nur Informationscharakter, sondern lassen auch der Fantasie Flügel wachsen. Wenn davon die Rede ist, dass Bäume mit ihren Duftmolekülen den Regen rufen, dann schwirren künstlich erzeugte farbige Punkte über die echten Baumkronen zum Himmel. Manchmal ist auch ein Flüstern und Raunen zu vernehmen, das die unhörbare Sprache der Bäume imaginiert. Interessanterweise aber wirkt diese ausgeprägte Poesie, der sich auch der gesprochene Text verschreibt, nur auf den ersten Blick konträr zu den vielen biologischen Fakten. Information und Gefühl gleichen zwei Strängen, die sich annähern und schließlich verbinden. Je mehr man über die Wunder des Regenwaldes erfährt, desto stärker möchte man sich in das Lebewesen Baum auch einfühlen können. Sehr anschaulich schildert der Film, wie der Regenwald im Laufe der Jahrhunderte sein Gesicht verändert. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Interaktionen zwischen Pflanzen- und Tierwelt, wie ein Baum von Insekten und Pilzen profitiert, sich vor Elefanten schützt oder wie wandlungsfähig die Passionsblume auf die Attacken gefräßiger Raupen reagiert. Einen 700 Jahre alten Wald in wenigen Minuten zu zerstören, zeugt tatsächlich von beschämender menschlicher Ignoranz. Es gelingt diesem sehenswerten Film, sie ein Stück weit zu verringern. (kino-zeit.de)Ausblenden
So. 19:00
THE DEAD DON'T HURT OmU
USA/MEX 2023, 129 Min. Regie: Viggo Mortensen
mit Vickie Krieps, Viggo Mortensen, Sally Mcleod
Fast klassischer Western um große Gefühle, Rache und Vergebung
Weiterlesen...Die eigensinnige Immigrantin Vivienne Le Coudy (Vickie Krieps) hat in San Francisco mit einem besserwisserischen Langeweiler angebandelt, dessen einziger Vorzug seine dicke Brieftasche ist. Da ist der aus Dänemark stammende Kriegsveteran und Tischler Holger Olsen (Viggo Mortensen) schon ein ganz anderes Kaliber. Vivienne folgt ihm spontan in das Städtchen Elk Flats, wo er ein kleines Haus besitzt und mit dem Bau von Scheunen seinen Lebensunterhalt verdient. Vivienne will ihr eigenes Leben führen und das dazu nötige Geld selbst verdienen. So nimmt sie, gegen Olsens Willen, einen Job im örtlichen Saloon an. Ebenso spontan, wie Vivienne ihm gefolgt ist, entscheidet sich Olsen, auf der Seite der Union im Bürgerkrieg zu kämpfen, und lässt Vivienne in Elk Flats allein zurück. Als er nach Jahren endlich zurückkehrt, ist viel – zu viel – passiert … mit Vivienne, die dem brutalen Rancherssohn Weston Jeffries ausgeliefert war, von dem sie nach einer Vergewaltigung ein Kind bekommen hat, und mit Olsen, der über seine Kriegserlebnisse beharrlich schweigt. Die beiden versuchen, von vorn anzufangen. Im Grunde genommen erzählt „The Dead Don’t Hurt“ eine einfache Geschichte von zwei Menschen, die nicht nur einander lieben, sondern auch ihre Unabhängigkeit. Und diesen Zwiespalt können sie letztlich nicht überwinden. Dabei ist die Domestizierung des seine Freiheit über alles liebenden Westerners ein klassisches Thema des Genres. Mit Vivienne Le Coudy gibt es hier auch eine Frau als Heldin, die weder ihren Mann domestizieren möchte noch selbst domestiziert werden will. Dabei behält Vivienne ihre Geheimnisse, es bleibt offen, wohin Vivienne mit ihrer hart erkämpften Freiheit eigentlich will oder was sie sucht. Ist sie vielleicht einfach süchtig nach dem Leben, weil sie ahnt, dass ihr womöglich nicht viel Zeit bleibt? Beide Hauptpersonen, sowohl Vivienne als auch Olsen, sind einigermaßen rätselhaft, was ihre Handlungen und ihr Inneres betrifft: Was diesen verschlossenen Mann am Kriegshandwerk und am Soldatenleben derart fasziniert, dass er seine große Liebe jahrelang allein lässt, bleibt im Dunkeln. Vielleicht ist es seine Vorstellung von Männlichkeit und Freiheit, die ihn in den Krieg ziehen lassen. Oder vielleicht langweilt er sich auch, wenn er zu lange an einem Ort lebt. Viggo Mortensen erzählt seine Geschichte in einem gelegentlich durchaus verwirrenden Geflecht von Rückblenden und in unterschiedlichen Erzählsträngen. Er beginnt mit Viviennes Tod und entwickelt die Handlung von dort aus zurück. Das verleiht dem Film eine gewisse Faszination, macht ihn aber auch manchmal unübersichtlich und verwirrend. Hier ist dann die Aufmerksamkeit des Publikums gefragt. Vivienne, die von einem strahlenden Ritter träumt, der sie einst retten wird – und von Blumen, die in der kalifornischen Wüste gedeihen, gewinnt im Verlauf immer mehr an Kraft. Vielleicht auch, weil der Autor und Regisseur Mortensen seinen epischen Film darauf anlegt, was ihr früher Tod mit Olsen macht. Der mutiert dann zwar nicht direkt zu dem Ritter aus Viviennes Träumen, doch es gelingt ihm immerhin, einige seiner Fesseln abzuwerfen. Viggo Mortensen, der nicht nur für Regie, Drehbuch, sondern auch für die Filmmusik verantwortlich zeichnet, setzt auf grandiose Western-Bilder, auf Szenen von großer emotionaler Dichte, auf ein paar herrlich lakonische Oneliner und auf die Schauspielkunst von Vickie Krieps. Ihr gelingen hier ein paar große Kinomomente. Allein schon ihr Blick voller Verachtung, Spott und Liebe, wenn sie Olsen „Wie war dein Krieg?“ fragt, ist unvergesslich. Mit „The Dead Don’t Hurt“ stellt Viggo Mortensen einige richtige und wichtige Fragen zu Themen wie Verantwortung, Schuld und Rache, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Und er verpackt alle diese Fragen mit großer Professionalität zwischen den Konventionen des Genres. Western-Fans können sich freuen! (programmkino.de)Ausblenden