Kintopp-Klassiker – BRD 1967, 94 Min. Regie: Rolf Olsen
mit Erik Schumann, Fritz Wepper, Marianne Hoffmann
Ein delirierendes Zeit- und Sittengemälde aus unserer Kinemathek
Weiterlesen...Die Reeperbahn, das ist Tourismusmagnet und sündiges Treiben, ein faszinierender Mythos der Freiheit und ein Hort der Kriminalität. Das gilt heute genauso wie Ende der 1960er Jahre, als Rolf Olsen „Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn“ drehte, weil die öffentliche Wahrnehmung des Hamburger Vergnügungsviertels St. Pauli ein Produkt ihrer Selbstdarstellungskunst ist. Der Wandel der Verhältnisse im Hintergrund ändert nur wenig daran. Der Österreicher Rolf Olsen war sich der symbolischen Kraft St. Paulis bewusst, sodass er mit den reißerischen Elementen spielte, um seine Themen abzuhandeln. Stellvertretend für den Zuschauer schickte Olsen den Reporter Danny Sonntag (Erik Schumann) in den Sumpf Hamburgs, wo der ambitionierte Sensationsjournalist ein paar Jungspunden aus gutem Hause auf die Füße tritt. Unter Führung des rebellischen Feuer-Hotte (Jürgen Draeger) vermieten die smart auftretenden Kriminellen willige Schülerinnen an wohlhabende Bürger der Stadt, die sich mit den Mädchen vergnügen. LSD aus der Werkstatt des chemisch begabten Till Voss (Fritz Wepper) gehört bei den Sexpartys zum guten Ton. Die rotzig auftretende Pinky (Tanja Gruber) lichtet in ihrem kleinen Fotostudio einige der Schülerinnen ab, damit sich die alten, mächtigen Männer auch jenseits der Partys am Anblick nackter Tatsachen erfreuen können. Sonntags Nachforschungen erschüttern das labile Gleichgewicht der Gruppe, die zusätzlich durch innere Vorgänge bedroht wird. Denn Till, der Sohn des Wirtschaftsbosses Wilhelm Voss (Herbert Tiede), will aussteigen, nachdem er sich in die unschuldige Lotti Norkus (Marianne Hoffmann) verliebt hat. Ohne Tills LSD ist Feuer-Hottes Geschäftsmodell jedoch am Ende. Deswegen knüpft Hotte eine schändliche Intrige, die auch vor Lotti nicht Halt macht. Olsen hat inszenatorisch keine feinsinnig-gestalteten Handlungsabläufe mit schwer zu entdeckenden Subtilitäten im Sinn. Er baut auf die Kraft greller Sensationen, die er so geschickt miteinander verschachtelt, dass ein galliges, zugespitztes Sittenporträt entsteht. Die Haupthandlung um Feuer-Hotte flankiert Olsen mit kleinen Randnotizen, die dramaturgisch fast unwichtig sind, aber zum Gesamtbild beitragen. Ein Unternehmer fährt gleich zu beginn eine drogengeschwängerte, junge Frau an und begeht Fahrerflucht. Der Kleinkriminelle Uwe (Heinz Reincke) nutzt sein Wissen über den Vorgang, um den Unternehmer immer wieder zu erpressen. Diese Episoden schärfen den Blick für das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher oder auch politischer Macht auf der einen Seite und den Niederungen des reinen Überlebens auf der anderen Seite. Dabei unterscheiden sich beide egoistischen Verhaltensweisen durch die Motivation. Der Unternehmer will seinen gehobenen Status sichern, der andere braucht einfach Geld, um sich was zu essen kaufen zu können. Im Sumpf der Kriminalität stecken sie beide. Hier treffen die gesellschaftlichen Schichten aufeinander. So vermittelt Olsen ein Gefühl für das Milieu, in dem die hohen Herren in ihrer Freizeit aktiv sind, obwohl es über weite Strecken nahezu unsichtbar erscheint. Denn sie vergnügen sich mit Schülerinnen, die von Söhnen aus gutem Hause vermittelt werden und nicht der kriminellen Unterschicht angehören. Ihren Spaß haben die Mächtigen aber nicht im luftleeren Raum. Allein die Örtlichkeiten, in denen die Sexpartys stattfinden, verbinden sie mit dem Milieu. Hier leben sie ihre schmierigen Gelüste aus. Zur Triebbefriedigung auf fragwürdigem Feld gesellt sich noch eine ungute Verquickung mit politischen Entscheidungen. Die Korruption ist die Schwester der Ausschweifung. Die Berührungspunkte bleiben jedoch dezent. Dadurch reflektiert der Film die Scheinwelt, in der die Unternehmer und Politiker leben. Sie betrügen sich selbst, indem sie das Milieu so weit wie möglich außen vor lassen. Nur so schaffen sie es, nicht an ihrer Widerwärtigkeit zugrunde zu gehen. Die dramatischen Ereignisse untergraben den Selbstbetrug jedoch. Unnachgiebig hetzt Olsen den ausstiegswilligen Till auf seinen Vater, den er schließlich mit seiner Freundin erwischt. Die Konfrontation zertrümmert das sorgsam aufgebaute Gebilde aus bigotter Kultiviertheit und ritualisierter Sexausbübung. Die wahre Natur tritt offen zutage. Für die Machtelite hat Olsen nur wenig übrig. „Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn“ porträtiert mit galliger Direktheit die Verkommenheit in der Gesellschaft, die sich durch unterschiedliche Milieus zieht. Dabei seziert Olsen vor allem die scheinbare Kultiviertheit der Machtelite, deren trieb- und korruptionsgesteuertes Handeln er präsentiert. (kino-zeit.de)Ausblenden